Nachfolge ohne Überempfindlichkeit

child-630062_625

Wir können unser Herz selbst überempfindlich machen. Wir können es hätscheln und verwöhnen; und je mehr wir das tun, desto lieber mag es das Herz und desto stärker bemitleiden wir uns selbst. Wir können uns so in etwas hineinsteigern, dass schon der geringste Anlass genügt, um riesige Probleme aufzuwerfen. Wenn wir in einem Dynamitfass ein Streichholz – nur eines – anzünden, dann gibt es eine fürchterliche Explosion. Aber das liegt nicht in erster Linie an dem Streichholz, sondern an dem Fass Dynamit.

Das erkannte der Psalmist (Psalm 73). Er hatte sich in seiner Meinung über die Gottlosen vollkommen geirrt. Er hatte gedacht, sie allein seien die Ursache seiner Probleme. Nun entdeckte er, dass das nicht stimmte. Er selbst hatte sein Herz in diesen törichten Zustand hineingesteigert; er war überempfindlich geworden. Und wenn man in solch einer Verfassung ist, dann genügt schon der kleinste Anlass, um eine Explosion auszulösen. Wir alle wissen, wovon ich rede. Aber erkennen wir auch, wo wir selbst genauso reagieren? Wenn wir mit uns selbst reden, empfinden wir dann auch jedes Mal Mitleid? Wenn ja, dann begehen wir den gleichen Fehler wie der Psalmist. Wir vergrößern die krankhafte Überempfindlichkeit nur noch und können dann mit Sicherheit auf schmerzhafte Erfahrungen gefasst sein.

So etwas nennt man Masochismus. Diese Art von Perversion ist uns nicht fremd, jeder von uns macht sich ihrer mehr oder weniger schuldig. Es ist ein seltsamer Zug der menschlichen Natur und eine der schlimmsten Folgen des Sündenfalls, dass wir eine perverse Freude – denn das ist sie – daran haben, uns selbst wehzutun. Es ist eigenartig, aber wir genießen unser Elend, weil wir uns dabei selbst bemitleiden können. Und das macht alles so kompliziert. Wir fühlen uns zwar zutiefst elend und unglücklich, aber gleichzeitig klammern wir uns an unserem Elend fest, weil wir daraus eine Art perverses Vergnügen beziehen. Wir sind immer noch darauf bedacht, unser eigenes Ich zu schützen und zu verherrlichen.

All dies entdeckte der Psalmist im Heiligtum Gottes. Er hatte sich selbst bedauert. Er hatte sein eigenes Elend verursacht und genährt. Er hatte die ganze Angelegenheit immer mehr aufgebauscht, anstatt sie nüchtern in Augenschein zu nehmen. Er war gar nicht in so großen Schwierigkeiten; es war eigentlich alles gar nicht so schlimm. Die schweren Stunden hatte er sich selbst bereitet, weil er die Dinge von der falschen Seite aus betrachtete – töricht, wie er war! Sind wir ihm zuweilen nicht sehr ähnlich – törichte Geschöpfe, die wir sind?

Das genaue Gegenteil einer solchen Gemütsverfassung wird in Philipper 4,11-13 beschrieben. Paulus schreibt dort: ich habe nämlich gelernt, mit der Lage zufrieden zu sein, in der ich mich befinde. Denn ich verstehe mich aufs Armsein, ich verstehe mich aber auch aufs Reichsein; ich bin mit allem und jedem vertraut, sowohl satt zu sein als auch zu hungern, sowohl Überfluss zu haben als auch Mangel zu leiden. Ich vermag alles durch den, der mich stark macht, Christus. “ Mit anderen Worten, er, Paulus, braucht nicht mehr überempfindlich zu sein. Er hat einen Zustand erreicht, in dem es für ihn nicht mehr so wichtig ist, was mit ihm geschieht; nichts wirft ihn mehr aus der Bahn. „Ich habe nämlich gelernt…“ Das sollte jeder Christ von sich sagen können. Wer nicht Christ ist, kann das nicht. Er gleicht eher jenem Pulverfass; man weiß nie genau, wann die Explosion kommt. Der kleinste Nadelstich bringt ihn in Aufruhr; wenn es um sein Ich geht, ist er überempfindlich.

Der Apostel Paulus erinnert uns mit seinen Worten jedoch an die Weisung, die der Herr seinen Jüngern gab: „Wenn jemand mir nachkommen will, so verleugne er sich selbst“ (Mt 16,24). Das lch muss zuerst beiseite geschoben werden, dann geht es weiter: „…und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach!” Weil sein lch entthront und in den Hintergrund geschoben wurde, verliert der Jünger seine Überempfindlichkeit und muss nicht mehr bei jedem kleinsten Anlass Probleme sehen. Er ist ausgeglichen, weil sein lch nicht mehr die Hauptrolle spielt, und er lebt für Christus.

– D. Martyn Lloyd-Jones, Schritt für Schritt, S.95f. // Bild: ©pixabay (CC0 1.0)