Wenn du aber öffentlich betest

Kirche_oeffentlichDie Predigt ist vorbei, und einige gute Gedanken klingen noch in mir nach. »Wir wollen jetzt eine Gebetsgemeinschaft haben«, sagt der Gottesdienstleiter. Ich bin damit einverstanden. Das freie, öffentliche Gebet von Schwestern und Brüdern gehört zu denjenigen Traditionen unseres freikirchlichen Gemeindelebens, die wir nicht preisgeben sollten. Ein Bruder betet. Er bittet Gott, dass wir nie vergessen mögen, mit vollem Einsatz gegen unsere Schwächen zu kämpfen. An und für sich ein berechtigtes Gebetsanliegen. Man kann nicht genug darum bitten. Allerdings hatte der Prediger heute davon gesprochen, dass unser Kampf gegen die Sünde nicht verbissen geschehen darf, damit er nicht zum Krampf ausartet. Blitzschnell wird mir bewusst: Der Beter will den Prediger korrigieren. Ich bin verstimmt. Darf so etwas in einem öffentlichen Gebet sein? Es darf nicht.

Ein öffentliches Gebet ist etwas anderes als das persönliche Gebet im stillen Kämmerlein. Das private Gebet geht nur den Beter und Gott etwas an. Das öffentliche Gebet aber hat Gemeinschaftscharakter. In ihm schließt sich ein einzelnes Glied der christlichen Gemeinde mit anderen Gliedern der Gemeinde zusammen, um Gott etwas zu sagen. Das ist der Sinn des öffentlichen Gebetes. Man hat dabei natürlich nicht nur an Gebetsgemeinschaften zu denken. Für alle öffentlichen Gebete, selbst für diejenigen, die nicht frei formuliert sind, gilt: Hier spricht eine Schwester oder ein Bruder im Namen der Gemeinschaft zu Gott. Und darum gelten für das öffentliche Gebet zwei Grundregeln.

Die erste Regel lautet: Der Adressat des Gebetes ist allein Gott. »Gebet ist kein Gebet, wenn man dabei einem anderen als Gott etwas sagen will«, hat der Theologe Karl Barth einmal geschrieben. Das trifft selbstverständlich auch für das private Gebet zu. Aber seine besondere Schärfe gewinnt dieser Satz dort, wo es um das öffentliche Gebet geht. Denn hier besteht die eigentliche Gefahr, dagegen zu verstoßen. Das öffentliche Gebet ist nicht der Ort, an dem der Gemeinde irgendwelche Mitteilungen gemacht werden. Wer im Gebet die Predigt kommentiert, spricht in Wahrheit den Prediger an. Wer betend darüber klagt, dass viele Geschwister im Besuch der Bibelstunde so nachlässig geworden sind, will die Gemeinde ermahnen und einen Appell an sie richten. Wer sagt: »Herr, du weißt, dass Schwester X vor wenigen Stunden mit einem Herzinfarkt in die Klinik eingeliefert wurde«, will offensichtlich nicht Gott darüber informieren, sondern die anwesenden Geschwister. Wer betend zu erklären versucht, worin die Heiligung des Menschen besteht, begibt sich in die Rolle des Lehrers. In allen diesen und ähnlich gelagerten Fällen liegt bei den Betern eine Adressenverwechslung vor. Das Anliegen mag noch so richtig sein. Doch das öffentliche Gebet ist nicht dazu da, einem anderen als Gott etwas zu sagen.

Die zweite Regel lautet: Wer öffentlich betet, muss sich der Gemeinschaft der Betenden bewusst sein. Die eigentliche Form des öffentlichen Gebetes ist darum die Wir-Form. Die Gemeinde soll ja innerlich mitbeten und am Ende »Amen« sagen können. Damit wird nicht generell untersagt, dass der Beter im öffentlichen Gebet auch in der Ich-Form spricht. Aber dieses »Ich« darf die Mitbetenden nicht ausschließen. Bei Formulierungen wie »Ich bin sehr betrübt oder sehr erfreut über dies und jenes« wird man bedenken müssen, ob hier auch ein »Wir« an die Stelle des »Ich« treten könnte. Ähnliches gilt im Blick auf die Klarheit des öffentlichen Gebetes. Immer wieder erlebt man, dass öffentlich so gebetet wird: »Herr, wir denken jetzt an unseren Heinz, du kennst das Problem, das ihm seit einigen Tagen so schwer zu schaffen macht.« Ohne Kenntnis darüber, wer »unser Heinz« ist und was ihn quält, kann man bei einem solchen Gebet nicht mitbeten. Ein Teil der Gebetsgemeinschaft kann darum möglicherweise zu dieser Fürbitte kein »Amen« sagen, weil das Gebetsanliegen nicht klar ist. Dass andererseits das öffentliche Gebet nicht dazu dient, einen genauen Krankheitsbefund zu schildern oder private Nöte einzelner Menschen zu erläutern, versteht sich hoffentlich von selbst.

Niemand, der öffentlich betet, soll durch starre Regeln in ein Korsett gezwungen werden. Das Gebet verträgt keinen Zwang. Die genannten Grundregeln haben dienende Funktion. Sie sind als Rahmen zu verstehen, der das öffentlichen Gebet der Gemeinde Jesu fördern und vor Missverständnissen bewahren will.

Dr. Volker Spangenberg
Die Gemeinde 22/2000