Von den Sünden der Frommen

Was die Pharisäer zur Zeit Jesu kennzeichnete, war ihre Sattheit. »Wir haben es, wir sind die Träger der Kirche, der Frömmigkeit, auf uns kann man sich verlassen.« Und das Merkwürdige war: Diese Leute waren wirklich großenteils »fromm«. Sie nahmen es sehr genau, sie waren sehr moralisch, sie ereiferten sich wirklich für Gott.

Um so auffallender ist es, wie leidenschaftlich Jesus sie bekämpft, wie hart er, der Sanftmütige, sie schilt. Weshalb? Er kann allen helfen, nur gerade ihnen nicht. Warum nicht? Weil sie »satt« sind, sie brauchen keinen Erlöser. Sie tun so, als seien sie schon erlöst oder als erlösten sie sich selbst. Er steht ihnen gegenüber wie der Arzt den Gesunden oder denen, die sich einbilden, es zu sein. Pharisäer – das ist beachtlich – wissen nicht, dass sie es sind. Sobald sie es erkannt haben, sind sie es nicht mehr.

Rechtgläubigkeit, bei der der Akzent auf der ersten Silbe des Wortes liegt, ist Sünde. Er muss auf der zweiten Silbe liegen. »Recht gläubig« sollen wir sein, d.h. vertrauend und gehorsam, kindlich und demütig. Neben der Rechtgläubigkeit lauert gleich eine zweite Silbe, die mit ihr verwandt ist: die Rechthaberei. Pharisäer haben Gott gegenüber Recht, und darum brauchen sie nicht mehr die »Rechtfertigung aus dem Glauben«, von der Paulus spricht. Sie brauchen sie nicht, selbst wenn sie sie noch so lebhaft vertreten. Pharisäer haben auch Menschen gegenüber recht. Die größere Liebe ist aber die, die unrecht haben kann.

Noch ein Wort mit »recht« gehört hierher: Die Selbstgerechtigkeit. Selbstgerecht kann man sehr gut sein, obgleich man sich als Sünder bezeichnet. Es gibt nämlich zweierlei Sünde – demütige und hochmütige. Die Selbstgerechten gehören zu der ersten Art. Sie verzichten beileibe nicht auf den Erlöser; damit würde ja ihre ganze christliche Glaubenslehre zusammenbrechen. Aber sie fühlen sich nicht als Sünder. Sie haben das im Grunde hinter sich, sie sind ja bekehrt. Es gibt eine Altersweitsichtigkeit, die in der Ferne scharf sieht, aber in der Nähe nicht. Sie sehen ausgezeichnet die Sünden der anderen, aber ihre eigenen sehen sie nicht, weil sie zu nahe sind. Das ist die Lage der Selbstgerechten. Und gerade diese Haltung hat der Kirche Christi, die doch grundsätzlich eine Kirche der erlösungsbedürftigen Sünder ist, am meisten geschadet. Chesterton hat recht, wenn er sagt:

»Das Christentum wurde unpopulär nicht wegen der Demut, sondern wegen des Hochmuts – und das will gleich sagen: wegen der Selbstgerechtigkeit der Christen.«

Wir haben von unseren Vorfahren, den Pharisäern, die Leidenschaft der Gesetzlichkeit geerbt. Es ist uns nicht wohl, wenn wir es nicht katalogisiert haben: das ist erlaubt und das ist verboten, das ist Sünde und das nicht. Aller Tratsch ist hässlich, aber der fromme Tratsch, der über andere herfällt, weil sie anders sind, vielleicht freier, vielleicht »weltlicher«, vielleicht »liberaler«, der ist der hässlichste. Wir Frommen haben geradezu eine Leidenschaft, die Grenzen zwischen »fromm« und »gottlos« zu ziehen und dann über Grenzüberschreitungen zu Gericht zu sitzen.

Wir richten den Buchstaben und damit die Gesetzeszäune auf, die Jesus so mühselig niedergelegt hatte. Damals ging es um Sabbat-, Fasten- und Speisegebote. Heute geht es manchmal auch um diese Dinge, mehr aber noch um die modische Kleidung, um die kurze oder zu lange Frisur, um das Rauchen oder den Alkohol und noch einiges mehr. Bei diesen Gerichtsakten kehrt ein Wort in unserer frommen Sprache immer wieder: »Ärgernis«.

Es ist ein sehr schweres Wort. Aber nicht alles, was mich ärgert, ist Ärgernis. Oft genug gebrauchen wir dieses Wort falsch, und es sind nur meine Machtgelüste und meine Rechthaberei. Manchmal sogar ärgere ich mich darüber, dass der andere etwas zu können und zu dürfen scheint. Der Fehler der Pharisäer war, dass sie über Formulierung und Form den Inhalt verloren.

Falsche Erbaulichkeit

Und dann ist da im Zusammenhang mit dem Schriftgebrauch noch auf eine weitere Sünde von uns Frommen der Finger zu legen. Die Erbaulichkeit auf Kosten der Wahrhaftigkeit unter Vergewaltigung des eigentlichen Zusammenhangs. Wir haben uns allzu gern unter die Autorität des Wortes Gottes geflüchtet, auch da, wo es galt, unsere eigene menschliche und allzumenschliche Meinung zu festigen. Wer aber Autoritäten falsch und fahrlässig anruft, untergräbt sie. Das ist mir ein Grund, warum die Heilige Schrift in der Welt ihre Autorität verloren hat, und das ist unsere, der Frommen Schuld.

Wir Frommen führen doch mit Vorliebe all die großen, schweren Worte im Munde: Glaube, Liebe, Demut, Gehorsam, Wahrhaftigkeit, Reinheit. Wenn man einmal anfängt, sich selber unter die Lupe zu nehmen, erschrickt man. Wir reden vom Glauben, wir sagen, wir sind gläubig. Wir wissen sogar das Datum anzugeben. Aber praktisch tun wir doch oft so, als wäre Gott nicht da oder als wäre Er ein Nichtskönner. Wie viel Angst haben wir, wie viel Sorgen und Rechnen trotz des »Sorget nicht«. Ich habe in unseren Reihen erschreckend viel praktischen Atheismus gefunden.

Ein Zweites, dessen uns die Welt anklagt, ist, dass es uns an der Liebe fehlt. Liebe hat Ehrfurcht vor der Stellung des anderen. Liebe ist nicht nur gerecht. Wenn Gott nur gerecht wäre, wären wir alle verloren. Liebe ist barmherzig. Liebe demütigt sich selbst vor dem anderen. Liebe liebt den Sünder und weigert ihm nicht die Gemeinschaft, sondern setzt sich mit ihm an einen Tisch. Liebe wäscht die Füße, nicht den Kopf. Liebe opfert nicht Dinge, sondern sich selbst.

Bei echter Liebe ist immer das eigene Herzblut beteiligt. Liebe gewinnt den anderen nicht für die Kirche, nicht für die Gemeinschaft, nicht für die Gruppe, nicht für sich, sondern für Christus. Die Liebe ist geduldig, ist freundlich. Sie ist nicht rücksichtslos, sie trägt nicht nach, sie sucht nicht das Ihre, sie entschuldigt alles, sie erträgt alles. 1. Korinther 13 ist eine Anklageschrift gegen uns »Fromme«. Man wirft uns vor, dass wir nicht demütig sind. Wir gleichen dem Mann im Tempel, der betete:

»Ich danke dir, Gott, dass ich nicht bin wie die anderen Leute«. Man hat das Wort vom geistlichen Hochmut gefunden, und es stimmt. Man kann auch Pastor, Diakon oder Missionar sein und werden, um eine Rolle zu spielen. Ich habe mich schon manches mal dabei ertappt, wie ich meinem eigenen schönen Beten zugehört habe.

Unsere fromme Lüge

In der deutschen Inflationszeit nach dem Ersten Weltkrieg kam es vor, dass ein Gauner einen anderen, der von dieser Inflation nichts wusste, mit Inflationsgeld bezahlte, als wäre es solches mit voller Deckung. Das ist unsere Sünde. Unsere frommen Worte haben durch allzu häufigen Gebrauch eine Entwertung erfahren. Es fehlt ihnen die volle Golddeckung. Wir aber bieten sie nach wie vor an, als hätten sie noch vollen Gehalt. Und wir selbst sind an dieser Inflation schuld. Wir haben die Worte Kreuz, Blut, Gnade, Sünde, und sicher nicht nur diese, allzu oft und allzu breit in den Mund genommen und allzu billig angeboten. Nun haben sie die Valuta in unserem Munde verloren. Aber unsere Unwahrhaftigkeit geht noch viel weiter. Wahrhaftige Menschen sind natürlich.

Und nun möchte ich aus der Vielfalt unseres Sündenregisters nur noch eine Anzahl von Sünden herausgreifen, damit wir es endlich begreifen, wie es um uns steht und was für harmlose Namen die Sünde oft nimmt, um uns über ihren Ernst zu täuschen. (1) Sich wichtig nehmen ist Sünde, weil das immer auf Kosten des einzig Wichtigen, des Reiches Gottes geht. (2) Empfindlichkeit und Beleidigtsein sind damit verwandt und verraten, dass man seine eigene Ehre sucht. (3) Herrschsucht ist Sünde, erst recht, wenn sie sich, wie so oft, eines frommen Gewandes bedient, um über Gewissen Macht zu bekommen. (4) Fromme Betriebsamkeit ist Sünde. Sie hat nicht selten ihre Wurzel im Geltungstrieb oder im Unentbehrlichkeitskomplex. Manchmal ist sie Flucht vor der Stille und Angst vor dem Alleinsein mit sich und Gott.

(5) Keine Zeit zu haben ist Sünde, denn sie ist Folge mangelnder Haushalterschaft und falschen Maßstabes. (6) Sachgebundenheit ist Sünde. Mein Haus, meine Möbel, mein Zimmer, mein Teppich, meine Bücher, meine Zeit, mein Auto. Immer mein, mein, mein. Von den Jüngern hieß es: »… und sie verließen alles.« Alles, was im anderen uns stört, ist auch in uns keimhaft vorhanden. (7) Moralismus ist Sünde, denn er ist Gehorsam ohne Liebe. (8) Kritisieren ist dann Sünde, wenn es Besserwissen ist, ohne helfen zu wollen. (9) Sichabsondern kann Sünde sein, denn es ist Mangel an Verantwortungsgefühl, denn es verstößt gegen die Wahrhaftigkeit. (10) Frühurteile sind Sünde, denn sie verstoßen gegen die Gerechtigkeit. Prüderie ist Angst vor der Wirklichkeit, und die meiste Angst ist Sünde. Der Märtyrerkomplex kommt aus der Eitelkeit, und diese ist Sünde. (11) Die Eifersucht ist Sünde, denn sie kommt aus der Ichhaftigkeit und hat Angst, etwas zu verlieren. Bitterkeit ist Protest gegen die Vergangenheit, die Gott gehört. Sie ist auch Kritik an Gott und als solches Sünde.

(12) Religiöse Gleichmacherei ist Sünde, denn sie ist Mangel an Respekt vor der Führung des anderen. (13) Kopfhängerei ist praktischer Unglaube und deshalb Sünde. Fromme Redseligkeit sucht sich selbst statt den anderen, und das ist Sünde. Falsches Zeugnis ablegen tun wir dann, wenn wir von anderen Dingen reden, als hätten wir sie selbst erfahren, wissen sie aber nur aus Büchern oder vom Hörensagen. (14) Eitelkeit ist immer Sünde, aber unter allen Eitelkeiten ist die der Frommen die ärgerlichste. (15) Falsche Vertraulichkeit gegenüber Gott ist Sünde, denn sie entsteht aus mangelnder Ehrfurcht und vergisst, dass einer hat sterben müssen, damit ich zu Gott du sagen darf.

Wenn man all diese Sünden unter die Lupe nimmt, so wird man immer finden: ihre Wurzel ist das »dicke Ich«. Und immer, wenn das Ich zu dick ist, kommen Gott und der Nächste zu kurz. Denn solange wir uns mit unserem Ich beschäftigen, denken wir nicht an Gott und den Nächsten. Jesus wirft den Pharisäern vor, dass sie Mücken sieben und Kamele verschlucken. Wenn ich einem Menschen, weil er raucht oder weil er sich modern kleidet oder eine moderne Frisur trägt oder über diese oder jene Frage anders denkt als ich, die Gemeinschaft verweigere oder seine Frömmigkeit in Frage stelle, so habe ich gleichsam Mücken und ein Kamel verschluckt. Statt dessen sollen wir wissen: wo wir gegen die Forderung der Liebe, der Wahrhaftigkeit, der Demut vorgehen, da handelt es sich immer um das Größte, immer um das, was man im Reiche Gottes sehr ernst nimmt.

 

Aus W. J. Oehler, Wir Pharisäer, Verlagshaus Stuttgart