Begegnung mit Verfolgten: Die Bibel mit ihren Augen lesen

Licht

Ich brauche die Begegnung mit den Verfolgten, …. weil sie mir helfen meine Bibel besser zu verstehen und auszulegen.

„Die Bibel ist kein einfaches Buch, um es recht auszulegen und zu verstehen”, sagte mein Professor für Neues Testament, „warum sonst hätten wir in der Vergangenheit so viele Schlachten um ihre richtige Bedeutung geführt?“ Ich erinnere mich, wie mein Professor für Kirchengeschichte seinen Kopf schüttelte und reumütig sagte: „Eines der traurigsten Kennzeichen der Kirche ist, dass über die Lehre des Abendmahls Christen das meiste Blut vergossen haben.“

Jeder Pastor weiß, wie schwierig die Schrift zu verstehen ist. Sie mühen sich ab, um die Sprache zu lernen, benützen Konkordanzen und holen sich den Rat von Kommentaren, alles in der Hoffnung um mehr Licht auf die Schlüsselfragen der Interpretation zu werfen: Wer schrieb den Text und was wollten die Schreiber damit sagen? Wer hat den Text ursprünglich gelesen und wie haben sie ihn für sich verstanden?

Jede gute Interpretation beginnt mit dem Werkzeug, das diese beiden Fragen beantwortet. Wir wurden gelehrt, dass die Schlüssel im Bereich der Gelehrten liegen und die meisten Pastoren übernehmen sie in ihre Studien und persönlichen Bibliotheken. Aber es gibt noch ein anderes “Werkzeug”, das uns den Schlüssel zum Verständnis der Schrift gibt: Die verfolgte Kirche!

Die verfolgte Kirche von heute zeigt uns, wie man den ursprünglichen Schreibern der Schrift so nah wie möglich kommen kann. Das meiste der Bibel wurde von verfolgten Menschen für verfolgte Menschen geschrieben. Indem wir mit ihnen in Kontakt treten, gewinnen wir wertvolle Einblicke in die ursprüngliche Bedeutung der Schrift. Wir brauchen ihre Hilfe, denn was für jemand der verfolgt wird klar ist, ist für uns nicht mehr in gleichem Maße klar. Wir leben in einem komplett anderen Universum. Wir brauchen die Verfolgten, um uns daran zu erinnern, wie das Leben ursprünglich in der Gesellschaft des Neuen Testaments aussah.

Es gibt drei Hauptkennzeichen, die verfolgte Christen von heute mit der Gemeinde zur Zeit der Bibel gemeinsam haben, von denen wir heute auffallend wenig wissen.

Verfolgte Christen haben keine Zukunft

Eine Zukunft zu haben ist ein Luxus, den die meisten verfolgten Christen nicht kennen, weder heute noch zur Zeit der Bibel. Sie kennen keine Langzeitplanung. Wenn sie etwas lesen und anwenden, tun sie es für den jetzigen Moment. Sie müssen heute von Gott hören, denn morgen schon könnte ihr Leben von ihnen genommen werden. Sie leben und agieren mit wenig Rücksicht auf die Konsequenzen. Was ist das für ein großer Unterschied zu uns. Wir tun unseren Dienst als würden wir ewig auf dieser Erde leben.

Verfolgte Christen haben keinen Stand in ihrer Gesellschaft

Wir leben in einer Welt, in der die Kirche privilegiert war – und in vielen Fällen heute noch ist – wo die christliche Sprache und Lebenskonzepte unsere Geschichte geprägt hat und wo es möglich ist, dass einzelne Christen ein hohes Amt inne haben können. Wir haben es uns bequem eingerichtet und führen ein reiches und erfülltes Leben. Aber biblisch gesehen, waren die verfolgten Christen immer außerhalb der Machtstrukturen ihrer Gesellschaft. Petrus nennt sie „Gäste und Fremdlinge“. Die Schrift wurde für Menschen geschrieben, die keine Macht haben.

Verfolgte Christen leben in Gesellschaften, in denen religiöse Rituale vorherrschen

Das ist es, was ihnen Probleme einbringt – sie beten nicht den „Eroberer“ an. Auch in den atheistischen Staaten ist es so, die Christen befinden sich im Konflikt, weil sie nicht die „Götter“ der Gesellschaft anbeten, sei es Mao, Lenin oder Fidel Castro. Aber wir leben in einer Welt, in der die Rolle der Religion in die Privatsphäre abgeschoben wurde. Von uns wird nicht verlangt, wie von unseren – wie zu biblischen Zeiten – verfolgten Brüdern, Schwüre der Verbundenheit gegenüber den staatlichen Göttern abzulegen.

Somit befähigen uns die verfolgten Christen in geringer Weise die “originalen Augen” der ersten Schreiber und Leser des Neuen Testaments, die den Unterschied zu einer richtigen und falschen Interpretation ausmachen, wieder zu entdecken.

Ich erinnere mich an einen lieben Pastor aus dem Westen, der über die Stillung des Sturms (Mark. 4,35-41) predigte. Seine ganze Predigt ging darum, wie Jesus die Stürme in unserem Leben stillt. Er nannte Stürme wie Einsamkeit, Missverständnis, Demütigung und auch Verfolgung. Und er sagte, „Jesus kann dich von jedem dieser Stürme befreien, genau so wie er es bei den Jüngern damals getan hat.“

Der Pastor war gerade dabei in seiner Predigt fortzufahren, als ein alter Mann aufstand. Er war von einem Land im Mittleren Osten und hatte viel Leiden gesehen. Er sagte freundlich und mit Respekt: „Lieber Bruder, wenn du verfolgt worden wärst, würdest du die erste Bedeutung dieses Abschnittes kennen. Der Hauptpunkt dieser Geschichte ist nicht, dass Jesus den Sturm wegnimmt, sondern, dass es keinen Grund gibt den Sturm zu fürchten, wenn Jesus im Boot ist.“

In tiefem Schweigen schauten ihn alle an. Dann fuhr er fort: „Dieser Abschnitt ist uns gegeben als Trost im Angesicht von Stürmen, sodass wir sicher sein können, dass Jesus mit uns im Boot ist und der Sturm uns nichts anhaben kann.“

Es waren nicht viele, die die Unterbrechung schätzten. Aber einige Jahre später, als ich diesen Abschnitt während der Bibelschule studierte, sah ich den Wert dieses Einblicks. Das Markusevangelium war nicht an Christen geschrieben, die befreit wurden, sondern um die zu trösten, die den Tod vor Augen hatten. Es war an die verfolgten Christen in Rom gerichtet, die unter Nero zu Hunderten den Martyrertod erlitten. Wie hätten sie wohl diesen Abschnitt interpretiert? Sicherlich nicht in der Weise, dass sie aus dem Mund der Löwen befreit würden. Nein. Sie starben in den Arenen. Aber dieser Abschnitt hat trotzdem zu ihnen gesprochen – sie wussten, dass mit Jesus der Sturm des Todes ihnen nichts anhaben konnte.

Auch der Abschnitt selbst verdeutlicht dies. Jesus ist überrascht, dass die Jünger so wenig Glauben haben. Sie erkennen nicht, wer Jesus ist. Wenn sie es erkennen würden, würden sie den Sturm nicht fürchten. Somit hatte dieser verfolgte Christ – gerade weil er verfolgt wurde – die Bedeutung dieses Abschnittes besser verstanden als der Prediger, denn er war derjenige, für den der Abschnitt geschrieben wurde.

Was für eine fantastische Möglichkeit haben wir. Wenn wir mit der verfolgten Kirche in Kontakt treten, wird unsere eigene Bibel für uns verständlicher. Die verfolgten Christen geben uns die richtigen Augen, um die Schrift zu verstehen, die ursprünglich für Leute wie sie anstatt wie uns geschrieben wurde.

Natürlich sind die Verfolgten kein narrensicheres Hilfsmittel zum Verständnis der Schrift. Wir brauchen unsere Lehrer noch, unsere Erklärungen und unsere Wörterbücher. Aber wir sollten die Hilfe, die uns die verfolgte Kirche in der Interpretation der Schrift in die Hand gibt, nicht übersehen, denn sie sind viel mehr als wir es sind, mit der Welt unserer biblischen Vorfahren verbunden.

Quelle: Open Doors // Bild: ©SXC/chahad